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Anouar Benmalek - Fremde Sterne

Roman. Luchterhand HC, 318 Seiten, ISBN: 3630817786

Ersch. 2000 unter dem Titel "L´Enfant du peuple ancien" bei Pauvert, Paris

Aus dem Französischen März 2002 von Claudia Kalscheuer
 

 

 

Der Autor: 
Anouar Benmalek wurde 1956 in Casablanca geboren und besitzt die algerische und französische Staatsbürgerschaft. Er ist Privatdozent für Mathematik in Rennes, Journalist, überzeugter Demokrat, Mitbegründer des Algerischen Komitees gegen die Folter (CACT) und einer der bedeutendsten Schriftsteller des heutigen Algerien. 



 


Ein erfreulicher Anlass: die ganze Familie ist versammelt, die Nachbarn sind da, um die glückliche Heimkehr des Sohnes zu feiern, der im 1. Weltkrieg gekämpft hatte. "Wenigstens können wir sicher sein, dass wir ganz unten angekommen sind. Nach alldem kann es unmöglich noch einmal einen Krieg geben, soviel steht fest!" Und dann, seufzend, ein wenig herablassen: "Du hast Glück, Papa, du hast den Krieg nie erlebt. Ich langweile dich mit meinem Gejammer." Das meint der Sohn, dem die Eltern ihre wahre Herkunft verschwiegen haben, für den sie nur Elisabeth und Harry sind, die aus Europa nach Australien ausgewandert waren.

Dabei war ihre Geschichte um so vieles abenteuerlicher! Harry, eigentlich Kadir, hatte schon als Kind die Vertreibung aus Algerien miterleben müssen, als sein Vater mit dem Emir ins Exil gegangen war. Als die Sehnsucht nach der Heimat zu groß wurde, gingen sie zurück - zurück, um hier gegen die Franzosen zu kämpfen, die in der Zwischenzeit das Land annektiert hatten. Kadir wurde gefangengenommen, nach Neukaledonien deportiert.

Dahin hatte es auch Lislei verschlagen, die fälschlicherweise als Kommunardin verurteilt wurde. Und hier kreuzen sich auch ihre Wege. Kadir gelingt die Flucht aus dem Strafgefangenenlager, und Lislei findet ihn. Und sie hilft ihm: unter der Bedingung, dass sie mit ihm auf das Schiff darf, das ihn aus Neukaledonien wegbringen soll. Alles ist sie bereit, für ihre Freiheit zu geben - denn der Preis für ihre Überfahrt soll nicht in Geld entrichtet werden.

Ekel und Hass bestimmen das Verhältnis der beiden zueinander zu Beginn; aber dann geschieht, was nicht zu erwarten war: vor der Küste Tasmaniens stoppt das Schiff. Neue Fracht wird geladen. Darunter ein Kind, ein schwarzer Junge - der letzte noch lebende Ureinwohner Tasmaniens, wie seine Jäger hohnlächelnd erzählen... 

Eine Vielzahl an Geschichten wird in diesem Roman miteinander verwoben; die Besetzung Nordafrikas durch die Europäer, der Sieg über Paris, die Bagno-Lager in Neukaledonien, die Frühzeit der Besiedlung Australiens, und vor allem auch der Sieg über die Aborigines. "Die anderen Staaten schauten neidisch auf Tasmanien, das die Ureinwohnerfrage ein für allemal geklärt hatte" heißt es an einer Stelle des Buches; ja, geklärt hatte man, denn in beispielloser Jagd wurden die Aborigines hier abgeschlachtet wie Vieh. 

Das ungleiche Paar, das sich des schwarzen Jungen annimmt und seinetwegen viel Unverständnis erntet, ja, sogar in Lebensgefahr gerät, ist das einzige Zeichen von Menschlichkeit in diesem Roman; ansonsten wird vor allem in sehr plakativer und auch etwas indifferenziert gemordet und gestochen. 

Dabei muss man dem Autor aber zugute halten, dass er es schafft, eine Geschichte, die mich mit ziemlicher Sicherheit nie angesprochen hätte, wenn nicht das Zauberwort "Australien" darin vorgekommen wäre, auf sehr spannende Weise zu schildern, zu meiner Freude auch in - für Abenteuerromane nicht unbedingt typische - wohlgewählter Sprache. Alleine des Plots wegen hätte ich die Geschichte wohl nicht zu Ende gelesen, aber Benmalek bemüht sich mit Erfolg, die Vertreibung der Araber aus Algerien mit der Geschichte der Vertreibung der Aborigines in Bezug zu bringen. Die Struktur  sich das Recht anzumaßen, über andere zu bestimmen, wird hier sehr transparent.

Auch wenn das Wesen des Romans nicht meiner favorisierten Lektüre entspricht, die Umsetzung ist dem Autor auf jeden Fall gelungen.  

 


 

 

Leseprobe:

S. 11:
Vom Fenster aus blicke ich aufmerksam in den Garten. Verstreut stehen dort Tische und Rattanstühle. Dazwischen drängen sich die Menschen. Ich halte Ausschau nach den Mitgliedern meiner Familie, nach meinem Sohn, der lebendig aus der Hölle zurückgekehrt ist, seiner Frau Margaret, der Tapferen, Eigensinnigen, ihrer Tochter Joan, meiner geliebten Enkelin. Und nach Tridarir, meinem alten Weggefährten, dem Menschen, der eine Zeitlang unser einziger Lebenssinn war. Auch unsere größte Niederlage. Der wortkarge Aborigine ist nicht da, für den Tag verschwunden. Oder ist er vielleicht, wie es zuweilen vorkommt, für einen Monat oder länger zu einer seiner seltsamen Wüstenwanderungen aufgebrochen, von denen er stets staubstarrend, halb tot vor Hunger und jedesmal verzweifelter zurückkehrt?
Ich sollte glücklich sein. Und ich fühle mich als Tor unter Toren. In diesem Augenblick, da Reverend Key mir mit einem breiten Lächeln zu verstehen gibt, dass ich mich zu ihnen gesellen soll, zählt für mich nur noch der Körper, der im hinteren Teil des Zimmers auf dem Bett liegt. Dieser entkräftete Körper meiner Frau. Mich dürstet nach Leben. Es dürstet mich so sehr danach. Für sie und für mich.
Das Wetter ist schön. Als sei der Pazifik, statt Hunderte von Kilometern entfernt zu liegen, auf einmal unser Gast. 

 

© Daniela Ecker
24. Mai 2002
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